Diverse effects of product orientated projects in the context of arts and education – Vortrag im Rahmen des Symposiums „Encouraging quality in drama creativity, 20.-22.09.18 in Zagreb – wurde vor Ort in englischer Sprache gehalten, hier sehen Sie die deutsche Version.
Prozess- und Produktorientierung im theaterpädagogischen Kontext
von Lutz Pickardt download
Seit es die Theaterpädagogik gibt, zumindest aber seit ich diesen Beruf ausübe – und das sind jetzt etwa 28 Jahre – gibt es die Diskussion welcher Aspekt in der Arbeit mit nichtprofessionellen Spielern wichtiger sei, der Prozess oder das Produkt. Folgt man diesem Gedanken, muss man sich offenbar für eine Seite entscheiden – ob man nun eine gute Aufführung mit seinen Teilnehmern erarbeiten möchte, mit künstlerischem Anspruch, oder ob es wichtiger sei, dass alle Teilnehmer ihren Spaß haben, aus sich herauskommen und viele andere Dinge dabei lernen.
Das klingt jetzt etwas zugespitzt, spiegelt aber ganz gut den Diskurs wieder, wie ich ihn seit vielen Jahren in Gesprächen mit meinen Kolleg*innen erlebe.
Ich selber möchte mich keinem dieser Lager fest zuordnen, wenn ich auch eine leichte Sympathie für die Arbeit hin auf eine Aufführung habe. Warum das so ist werde ich später erläutern. Vor allen Dingen möchte ich aber die Wechselwirkung zwischen Prozess und Produkt aufzeigen, wie ich sie sehe und wie ich sie erlebe. Für welchen Weg ich mich als Theaterpädagoge oder Theaterlehrer entscheide, und welche Schwerpunkte ich dabei setze, hängt nicht zuletzt mit den Zielen und Absichten zusammen, die ich mit meiner Arbeit verbinde. Zunächst spricht vieles für eine besondere Betonung des Prozesses in der theaterpädagogischen Arbeit. Theaterpädagogen werden in den deutschsprachigen Ländern und in den Niederlanden im Besonderen dafür ausgebildet, eine Gruppe aufzubauen und zusammenzubringen, Vertrauen zu schaffen, mit vielen Spielen und Übungen Lockerheit und Kreativität zu fördern, Theatertechniken zu vermitteln und Gruppen zum spielen zu bewegen. Ich vermute, dass das in Kroatien nicht anders ist.
Legt man den Schwerpunkt seiner Arbeit auf den „Prozess“,
hat das erstmal viele positive Effekte:
Der Spieltheoretiker Josef Huizinga hat einmal über das Spiel gesagt, es sei „zweckfreies Handeln“, was natürlich auch für das Theaterspiel angestrebt werden kann. Es kann sehr viel Sinn machen, Spielwiesen zu erschaffen, an denen die Teilnehmer einfach so sein kann wie sie sind, an dem sie sich Zeit lassen können um die Zeit zu vergessen, und an denen sie vieles ausprobieren können ohne dafür bewertet zu werden, ohne Erfolgsdruck, ohne Bewertung. Ob das nun Kinder, Jugendliche, Erwachsene oder Senioren sind, spielt in diesem Kontext keine Rolle. Die Erschaffung von solcherlei Räumen und Zeiten kann ein wichtiges Gegenwicht zu unserer Kultur der Beschleunigung, Selbstoptimierung, Ökonomisierung und Verzweckung sein.
Zweckfreiheit lässt atmen, schafft Raum, und lässt Kinder, Jugendliche und Erwachsene spielen um des Spielens willen.
Wenn ich kein Produkt erarbeiten muss, fällt auch eine Menge Druck weg, zu einem bestimmten Termin etwas präsentieren zu müssen. Die dadurch gewonnene Freiheit hilft dem Spielleiter oder der Spielleiterin, genauer hinzuschauen, besser und einfühlsamer auf einzelne Spieler*innen einzugehen und sie in ihren individuellen Stärken zu unterstützen. Er oder sie kann sein Konzept jederzeit an die aktuelle Lage oder den Prozess anpassen, es sogar komplett über Bord werden und etwas ganz anderes machen, wenn das die Situation erfordert. Er oder sie kann einen Raum ohne Wertung erschaffen, was für viele Menschen eine selten erlebte Erfahrung ist, für manche sogar eine Offenbarung. Konflikte mit einzelnen Teilnehmern oder gruppendynamische Prozesse können dann in Ruhe angeschaut und gelöst werden, ohne dass dadurch wichtige Zeit verlorengeht.
„Zeit“ ist in der rein prozessorientierten Arbeit ein Luxusgut, im Gegensatz zu der Erarbeitung eines Produkts, wo einem die Zeit sehr schnell verloren gehen kann. Aber die reine Prozessorientierung in der Theaterpädagogik hat auch große Nachteile und bietet typische Fallstricke.
Viele Teilnehmer*innen, gerade Jugendliche oder jugendliche Heranwachsende, aber auch Kinder und Erwachsene sehen keinen Sinn darin Theater zu spielen, ohne am Ende auf der Bühne stehen zu dürfen und das gezeigte auch präsentieren zu können. Nun, man könnte sagen, ja genau, das ist ihre Prägung, ein Ausdruck ihrer Sozialisation und der zuvor kritisierten Leistungsorientierung in unserer Gesellschaft an dem man arbeiten und wo sie viel dazulernen könnten. Das mag so sein oder auch nicht, man ist auf jeden Fall damit konfrontiert und muss Wege finden, damit umzugehen. Die Folge ist nicht selten ein Mangel an Disziplin und Verbindlichkeit. Man hat es mit Teilnehmer*innen zu tun, die das Ganze nicht so wichtig nehmen und andere Prioritäten setzen, sich wenig einlassen, die sich weigern, verbindlich zu sein und unregelmäßig zu den Proben erscheinen – wenn sie nicht durch den Schulkontext dazu gezwungen werden. Manche haben auch andere Interessen, nutzen den Raum der ihnen gegeben wird, um Mädchen kennenzulernen (was legitim ist), mit anderen zu sprechen, zu stören oder mit dem Leiter zu kämpfen.
Jeder Praktiker weiß, dass Unverbindlichkeit und destruktives Verhalten einzelner Teilnehmer Gift für die Gruppendynamik sein kann, starke Konflikte erzeugen und eine Gruppe sogar zerstören kann.
Steht am Ende keine Präsentation an, ist es bei längeren Projekten zudem schwierig, einen Spannungsbogen zu erzeugen und die Gruppe zusammenzuhalten. Nicht selten starten prozessorientierte Gruppen hoch ambitioniert, erleben eine Hochzeit, verlieren dann aber mehr und mehr Teilnehmer und müssen nach mehreren Wochen oder Monaten aufgeben, weil die Ausdünnung der Gruppe auch die verbleibenden Teilnehmer frustriert, bis einfach irgendwann die Luft raus ist und es besser ist, das Ganze zu beenden.
Ich will nicht behaupten, dass alle rein prozessorientierten dieses Schicksal erleiden, dennoch passiert das relativ häufig. Eine Lösung dem entgegenzuwirken kann sein, in kürzere abgegrenzten Zeiträumen zu planen, an Projekten zu arbeiten die einen klaren Anfang und ein klares Ende haben.
Kommen wir zum produktorientierten Ansatz.
Arbeitet man auf eine Aufführung hin, dann hat man ein echtes Ziel, dem sich alle Beteiligten verschreiben müssen. In vielen Dingen und Aspekten muss zuerst ein Konsens hergestellt werden, damit das gemeinsame Vorhaben gelingen und am Ende eine für alle befriedigende Präsentation erarbeitet kann. Zuerst einmal muss ein Thema oder ein Stück gefunden werden, mit dem sich alle Teilnehmer*innen und auch der oder die Leiter*in identifizieren können. Wenn es einen Teil der Spielerinnen oder auch den/die Leiter*in nicht inspiriert, sind auch keine großen kreativen Leistungen zu erwarten, und die Produktion gerät zu einem mühsamen, für manche langweiligen Unterfangen. Die Bedeutung des Konsenses zu dem Thema, das wirklich alle inspiriert, wird häufig unterschätzt. Will man mit der Themenfindung und Entscheidung schnell fertig werden, ohne sich zu vergewissern, wirklich alle (!) mit im Boot zu haben, kann sich das rächen.
Zum Beispiel wenn ein Teil der Gruppe das Thema nicht mitträgt, aber nicht den Mut hatte das vorher zu äußern. Und genau diese Teilnehmer*innen dann später wegen Lustlosigkeit auffallen, immer wieder Stimmung gegen alles was erarbeitet wurde machen oder gegen den/die Leiter*in ankämpfen – ich habe das einige Male so erlebt. Das Gleiche gilt für die „Mittel“, mit denen man arbeiten möchte: Klassisches Sprechtheater, Bewegungstheater oder Tanz, Masken und Figuren, Video und so weiter, als auch für die Theaterform: Komödie oder Tragödie, Tanztheater, postdramatisches Theater oder Performance.
Man sollte sich daher auf jeden Fall genügend Zeit für die Auswahl des Themas, die ästhetischen Mittel und die angestrebte Theaterform einplanen. Manchmal geht es auch ganz schnell, aber davon sollte man nicht im Vorfeld ausgehen.
Manchmal findet man zwar eine Übereinstimmung über die oben genannten Punkte, und die meisten der Teilnehmer*innen sind damit einverstanden – doch ein oder zwei der Spieler*innen bleiben strikt dagegen und üben Druck auf Gruppe und Leiter aus, das Thema oder Arbeitsform zu verändern – in ihrem Sinne. Manchmal entwickelt sich daraus ein regelrechter Machtkampf, wenn man sich darauf einlässt. In diesem Fall kann es Sinn machen, diesen Teilnehmer*innen nahezulegen, die Gruppe oder zumindest die aktuelle Produktion zu verlassen. Finden die Proben im Rahmen der Schulzeit statt, gibt es in dieser Hinsicht keine Probleme. Hat man aber eingeplant, in der Freizeit oder an Wochenenden zu proben, steht man in Konkurrenz zu allen anderen Vorhaben, die die Teilnehmer*innen in ihrer Freizeit unternehmen: Aktivitäten wie Fußball spielen, Klavier- und Tanzstunden, Fahrunterricht, Urlaub, familiäre Verpflichtungen, Nachhilfe oder einfach Üben für die Schule.
Also sollte auch der Zeitplan von vorherein feststehen und von allen mitgetragen werden. Ist das nicht der Fall, hat man es möglicherweise während der ganzen Produktionszeit mit Verhandlungsversuchen und anstrengenden Diskussionen zu tun. Viel mehr noch als bei der prozessgerichteten Arbeit ist man bei der Arbeit an einer Aufführung auf Verbindlichkeit angewiesen, weil diese Arbeit unbedingt eine klare Struktur erfordert. Vieles baut aufeinander auf, das Stück entwickelt sich schrittweise, es gibt wichtige vorbereitende Trainings und auch bei den Szenenproben ist häufig die Anwesenheit aller Spieler*innen erforderlich.
Fehlen einzelne Teilnehmer*innen bei wichtigen Trainings oder Proben, macht sich das später unangenehm bemerkbar.
Dass man immer wieder Kompromisse finden muss, weil einzelne Spieler*innen krank werden oder aus wichtigen Gründen verhindert sind, steht außer Frage, doch hat diese Flexibilität ihre Grenzen. Manchmal müssen Proben ausfallen, wenn zu viele Spieler*innen fehlen, was den Druck erhöht, in der verbliebenden Zeit das Stück zu erarbeiten und zur Aufführung zu bringen. Zeit ist oft ein zentrales Thema, immer wieder hat man das Gefühl das man zu wenig davon hat. Hat man aber einen Konsens mit allen Beteiligten über das Thema, die Formen, Spiel- und Probezeiten und sonstigen Rahmenbedingungen erreicht, ist schon sehr viel geschafft und man kann mit vereinten Kräften die Arbeit beginnen. Das Produkt bestimmt den Prozess. Wenn am Ende eine oder mehrere Aufführungen stehen sollen, muss die Zeit sehr gut eingeteilt werden, damit man das gesetzte Ziel erreichen kann.
Hierbei ist es von Bedeutung, welchen ästhetischen, künstlerischen oder allgemein gesagt professionellen Anspruch man an das Ergebnis hat, und was man mit dem Stück bewirken möchte: Will man nur eine Werkschau vor Freunden oder Verwandten zeigen, kann man einen Mangel an Verdichtung oder Perfektion sicher tolerieren. In diesem Fall wird man von dem Wohlwollen der Zuschauer*innen ausgehen, unabhängig von dem gezeigten Ergebnis. Anders sieht es aus, wenn man vor der ganzen Schule spielen soll, mit dem Stück auf Tournee gehen möchte oder sogar auf ein Festival hinarbeitet, bei dem man sich mit anderen Gruppen messen lassen muss.
Auch die gewünschte Wirkung des Stückes kann stark variieren: Geht es einem vornehmlich um Unterhaltung, die Auseinandersetzung mit einem existentiellen Thema oder will man politisch wirken, die Zuschauer*innen berühren und/oder zum Nachdenken bewegen?
In meiner eigenen Arbeit hat sich für die Stückentwicklung ein 4-Phasen-Modell bewährt, das an der Hochschule der Künste in Utrecht entwickelt worden ist, und dass im Laufe der Jahre und Jahrzehnte für mich weiterentwickelt habe:
Bild 4-Phasen-Modell – Erläuterung (15 Minuten)
Je nachdem, welchen Anspruch ich an den Prozess oder das Ergebnis habe, verkürze oder verlängere ich Phase Eins. Arbeite ich mit für die Teilnehmer*innen neuen oder schwierigen Theater- oder Ausdruckformen, muss auch dafür genügend Zeit eingeplant werden.
Amateurspieler drängen mitunter darauf, die erste Phase zu verkürzen oder womöglich ganz wegzulassen. Sie würden gerne auf die mühsame Suche nach einem Konsens, die Phase der Themenexploration und das Training verzichten. Aushandlungsprozesse oder Partizipation gelten ihnen als Zeitverschwendung. Sie fragen mich schon bei den ersten Proben nach den Texten, wollen diese lernen und auf die Bühne bringen, wünschen sich eine klare Leitung, die die Gruppe straff und an kurzer Leine anführt und das Stück möglichst perfekt inszeniert. Vorbild für solche Vorstellungen und Erwartungen ist sicher das klassische Amateurtheater oder das professionelle Stadttheater, an dem die Schauspieler*innen mitunter wenig zu sagen haben.
Dieser Typ Spieler*in idealisiert diese Art, Theater zu machen, will weder spielen noch experimentieren, sondern hart an den ästhetischen Formen arbeiten in der Hoffnung auf ein möglichst perfektes Ergebnis – um bei der Aufführung viel Zustimmung und Applaus zu erhalten. Erfolg und Anerkennung stehen bei Ihnen im Vordergrund. Um nicht missverstanden zu werden: jeder Mensch und jeder Schauspieler wünscht sich Anerkennung und Zustimmung. Wenn das allerdings das einzige Ziel ist, ist die Aufführung mitunter ein bisschen langweilig und nichtssagend. Der Spielleiter oder Regisseur agiert in diesem Fall wie ein allwissender und strenger Vater, der sich mit Theater auskennt und dem sie sich gerne anvertrauen.
Diese Herangehensweise hat mit Theaterpädagogik wenig bis gar nichts zu tun, weil gerade die Partizipation und die kollektive Kreativität im Mittelpunkt dieser Disziplin stehen.
Beispiele Im Juni diesen Jahres war ich – mit meiner Kollegin Ines – als Teil der Jury auf dem Weltkindertheaterfest in Lingen (Deutschland), 18 Gruppen aus aller Welt haben dort ihre Stücke präsentiert. Das war interessant: Man konnte den Stücken mitunter sofort ansehen, welches Gewicht bei Ihnen die Partizipation und kollektive Kreation auf der einen Seite und die Arbeit an der Form auf der anderen Seite hatte. Einige Produktionen hatten eine richtig gute Mischung, man merkte deutlich wie sehr die Kinder an der Inszenierung beteiligt gewesen waren, mit einer ungeheuren Leidenschaft spielten, und zugleich waren interessante Formen gefunden die aus dem ganzen ein spannendes Gesamtkunstwerk machten, wir wurden bestens unterhalten und die Zeit verging wie im Fluge. Prozess und Partizipation waren im Gleichgewicht mit theatralem Handwerk und gekonnter Dramaturgie.
Kontrovers diskutiert wurde zum Beispiel der japanische Beitrag: So perfektes Kindertheater habe ich selten gesehen, eine Geschichte über Umweltzerstörung als Musical mit Tanzeinlagen, Gesang und vielen Bewegungsbildern. Einen ganzen Tag über war das aufwändige Bühnenbild aufgebaut worden, Kostüme, Spiel und Lichteffekte perfekt aufeinander abgestimmt. Man konnte unschwer die viele Arbeit erahnen, die in der Erarbeitung dieser Produktion gelegen haben muss. Ich weiß nicht mehr genau wie viele, aber es waren sicher mehr als 30 Kinder und Jugendliche, die dort in perfekter Manier zusammenspielten, das ganze wirkte wie eine gut geölte Maschine, bei der jede/r von ihnen eines der Zahnräder war. Viele der Zuschauer waren beindruckt und verzaubert von der professionellen Produktion und dem großen handwerklichen Können der jungen Schauspier*innen, zugleich aber auch abgestoßen von dem Drill und der ungeheuren Disziplin, die sie in dieser Arbeit meinten wahrzunehmen.
Der deutsche Beitrag war dann leider auf der anderen Seite der Skala anzusiedeln, eine Gruppe von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren spielten Geschichten über das „älter werden“ mit kleinen akrobatischen Einlagen und nannten das Zirkus. Der Prozess und das Zusammenspiel der verschiedenen Generationen war hier eindeutig im Vordergrund, und die Freude am gemeinsamen Spiel war den Akteuren auch anzusehen. Von handwerklicher oder künstlerischer Qualität konnte aber keine Rede sein. Das ganze wirkte ziemlich langatmig und schlecht gespielt, die akrobatischen Einlagen wenig geübt, insgesamt war es eine Enttäuschung.
Wie sähe nun eine ideale Mischung von Prozess- und Produktorientierung bei einer theaterpädagogischen Produktion aus, und was spricht überhaupt dafür, auf ein Produkt hinzuarbeiten?
Die ideale Mischung aus Prozess und Produkt liegt aus meiner Sicht dann vor, wenn ich eine gute Balance der vier Phasen in der Stückentwicklung hinbekomme. Habe ich, wie oben beschrieben, einen Konsens mit allen Beteiligten über das Thema oder Stück, Probenzeiten und sonstigen Rahmenbedingungen, kann ich anfangen mit der Gruppe zu experimentieren, das Themenfeld oder Stück zu erforschen. Ziel für mich ist es in dieser Phase, herauszufinden, was genau die Teilnehmer die Spieler*innen an dem Thema oder Stück interessiert, was sie abstößt, welche Fragen für sie offen und ungeklärt sind.
Zudem versuche ich herauszufinden, was den Spieler*innen Spaß macht, was sie nicht so gerne mögen und was ihre Stärken und Fähigkeiten sind. Diese Forschungsphase ist elementar für die weitere Zusammenarbeit. Je mehr ich in der Anfangsphase über die Gruppe und ihre Interessen herausfinde, desto mehr „Futter“ habe ich für die anschliessende Stückentwicklung.
Auf der Basis meiner „Forschung“ entwickele ich dann eine erste Idee für das Stück-Konzept. Jedem der Mitspieler*innen kann ich eine Rolle oder Funktion geben, die genau zu ihm passt, d.h. wo er seine Stärken ausspielen kann, oder die eine interessante Herausforderung für ihn darstellt.
Beispiele
Im Prozess entdecke ich, dass eine/r der Teilnehmer*innen …
- gut tanzen kann
- Gedichte schreibt
- in seiner Freizeit rappt
- fantastisch Basketball spielt
- sehr gut Gefühle zeigen kann
- ein tolles Körpergefühl hat
- gut Spannung halten kann
- u.s.w.
Ein/e andere Teilnehmer*in würde gerne mal …
- eine negative Figur darstellen
- als Erzähler*in fungieren
- große Gefühle zeigen
- auf der Bühne singen
- u.s.w.
Für mich als Theaterpädagoge sind das tolle und wichtige Informationen. Auch wenn ich es nicht allen Recht machen kann, so kann ich mich doch bemühen, jedem Spieler*in einen Ort in meinem Stück zu geben, an dem er oder sie sich wohl fühlt, sich ausdrücken und etwas Neues lernen kann. Verfahre ich in diesem Sinne, erreiche ich eine maximale Identifikation aller Spieler*innen mit dem Stück und ihrer Funktion.
Und genau das ist dann auch bei der Aufführung sichtbar: Alle Spieler*innen spielen ihre Rolle mit großer Leidenschaft, niemand wirkt fehlbesetzt oder am falschen Ort. Das schauen sich auch die Zuschauer gerne an. Die Motivation, gemeinsam(!) Kunst zu machen, führt häufig zu großem Enthusiasmus.
An dieser Stelle kann man gut den Unterschied zu dem oben benannten Amateurtheater, manchmal auch zum professionellen Theater sehen und erleben:
Fehlt dieser dialogische Prozess zwischen Leiter*in und Spieler*innen, wirken Texte manchmal aufgesagt, ohne innere Beteiligung, man sieht den Spieler*innen ihre große Distanz zu ihrer Rolle an, vieles wirkt konstruiert und nicht mit Leben erfüllt.
„Theater ist Leben geben“ hat Jerzy Grotowski einmal gesagt. Theater muss lebendig sein, würde ich gerne ergänzen. Richtig gute Schauspieler mit professioneller Ausbildung sind wandlungsfähig und haben Techniken erlernt, sich auch „fremde“ Rollen und Funktionen anzueignen bis sie perfekt zu ihnen passen. Dass auch ihnen das nicht immer richtig gelingt, haben wir alle schon erlebt.
Von Amateuren sollte man das jedenfalls nicht erwarten, sie haben einfach nicht diese Techniken. Vorhin habe ich schon öfters über das auszuwählende Thema gesprochen, mit dem sich die Gruppe beschäftigt. Das möchte ich an dieser Stelle noch einmal vertiefen. Wie wir alle wissen, gibt es für die Auswahl eines Themas zahllose Möglichkeiten:
Ich kann mich mit einer literarischen Vorlage beschäftigen, ein Themenfeld auswählen, das der Lebenswelt der Teilnehmer*innen entspricht (wie zum Beispiel das Themenfeld Liebe, Beziehungen, Sexualität, das ich schon oft mit pubertierenden Jugendlichen behandelt habe), ich kann mich religiösen oder existentiellen Fragen widmen – wie zum Beispiel das Spannungsfeld zwischen Leben und Tod – , oder mich mit gesellschaftspolitischen Fragen auseinandersetzen, z.B. Gewalt, Migration, oder die Beziehung zwischen Arm und Reich.
Ich persönlich mag Themen, die gerade „dran“ sind, die die Teilnehmer*innen brennend interessieren. Das kann ein politisches sein wie Umweltverschmutzung oder der Umgang mit Flüchtlingen, oder eines das die Gruppe gerade beschäftigt, z.B. Mobbing, wenn es z.B. gerade einen solchen Fall an der Schule gegeben hat. Gerade wenn es viele ungelöste Fragen dazu gibt, vielleicht sogar Wut, Ohnmacht oder Hilflosigkeit vorherrschen, ist das eine ideale Voraussetzung um Theater zu machen. Hinzu kommt oft eine Recherche, wir sammeln gemeinsam Material, Zeitungsartikel, Youtube-Videos oder Gedichte dier zum Thema passen und stellen sie der Gruppe vor. Manchmal lade ich auch externe Experten ein, die uns zu dem Thema etwas erzählen können. Natürlich kann ich auch mit einer literarischen Vorlage arbeiten, die sich genau mit so einem Thema beschäftigt. Oder ich mische literarische Texte mit selbst entwickeltem Material.
Für mich ist Theater machen auch manchmal „Notwehr“: Ich bringe sehr häufig Dinge auf die Bühne, die mich selber beschäftigen, mir keine Ruhe lassen und suche künstlerische Antworten auf die Fragen, die ich rational nicht beantworten kann. Finde ich ein Thema oder ein Stück, das die Teilnehmer wirklich brennend interessiert oder kann ich sie für das von mir gewählte Thema begeistern, kann ich von einer großen Bereitschaft der Spieler*innen ausgehen, sich in dieses Thema zu vertiefen, dazu bzu forschen und zu experimentieren und ein Stück dazu zu entwickeln. Manche Teilnehmer*innen sind dann sogar zu zahlreichen Extraproben bereit oder fordern diese sogar ein, wenn es gut läuft betrifft das sogar die ganze Gruppe.
Habe ich es geschafft, in dieser Weise zu arbeiten, hat die Entscheidung für ein Produkt eine große Zahl an positiven Effekten.
Das Aufführungsdatum am Ende wirkt ein Katalysator für den Gruppenprozess. Die Zeit muss gut genutzt werden, jede Probe ist wichtig. Dadurch dass der/die Spielleiter*in weiß wo er/sie hinwill, hat er/sie wenig keine Mühe, den Prozess vom Anfang bis zum Ende zu strukturieren. Die Bedeutung und Sinnhaftigkeit jedes einzelnen Schrittes ist auch für die Teilnehmer*innen transparent und verstehbar. Durch die hohe Motivation der Spieler*innen, am Ende ein zeigbares Stück zu präsentieren, wachsen einzelne über sich hinaus. Krisen in Bezug auf das Thema, die Arbeit oder die Gruppe werden angeschaut, bearbeitet und gelöst. Zuvor schüchterne Spieler*innen finden ihren Ort und präsentieren sich auf der Bühne – und bekommen dafür Applaus und Anerkennung, was sowohl das Selbstbild als auch die Wahrnehmung durch die anderen massiv verändern kann. In der Schule schlechte Schüler*innen, die ständig abgewertet werden und sich auch abgewertet fühlen, zeigen was sie drauf haben und erleben große Wertschätzung.
Lehrer*innen sind oft fassungslos, was in ihren Schüler*innen steckt: Die gleichen Jungs und Mädchen, die ansonsten schwer zurechtkommen, immer wieder anecken oder anderweitig auffallen wirken plötzlich wie ausgewechselt. Der mitunter lange Gruppenprozess ist wie eine Odyssee mit vielen Schwierigkeiten, die es zu bewältigen gibt, aber am Ende steht die Aufführung als Höhepunkt und klares Ende. Wie ein Ritual, aus dem man anders herauskommt, als man zuvor hineingegangen ist. Das gemeinsam erlebte und die Präsentation vor anderen schweißt die Gruppe fest zusammen. Manche Spieler*innen sind ganz betrunken vor Glück, wenn die Aufführung gut gelaufen und überstanden ist.
Theater ist eine kollektive Kunst, hier geht es nicht darum wer der Beste, sondern wie stark die Gruppe ist und was sie zu sagen hat. Es wirkt dadurch im höchsten Masse Ich-überschreitend. Die Erfahrung, aus allem was uns bewegt, Kunst erschaffen zu können, ist für viele eine Offenbarung. Für mich ist es das immer wieder. Nun, das war schon das Ende meines Skripts, hier ist noch mal eine Zusammenfassung meiner Ausführungen über die Arbeit an einem Produkt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!