Über das Spiel und das Spielen – Vortrag vor ehrenamtlichen Spielleiter*innen download

Jossgrund am 22. Januar 2019

Als Athena Schreiber mich vor einigen Wochen fragte, ob ich – sozusagen als Belohnung für die ehrenamtlichen Helfer der Ferienspiele in Jossgrund Euch – einen Vortrag über das Spielen halten könne, habe ich erstmal gestutzt. Einen Vortrag? Warum keine Fortbildung? Spiele anleiten lernt man vor alle Dingen durchs selber machen, selber erleben, da erfährt man was Spaß macht und was nicht. Auf diese Weise habe ich jedenfalls gelernt.

Aber gut, es macht mir auch Spaß über das Spielen zu sprechen, und wir haben ja jetzt auch ein wenig miteinander ausprobiert.

Athena und ich kennen uns aus der Weiterbildung zur Spiel- und Theaterpädagogin bei dem Bundesverband Kultureller Arbeit, für den ich schon sehr viele Jahre arbeite. Der übrigens früher „Arbeitsgemeinschaft Spiel“ hieß, aber das nur so nebenbei.

Ich selber bin ursprünglich Theaterpädagoge, Regisseur und Theatertherapeut, gebe aber auch Workshops für Körpertheater und experimentelle Stimmarbeit. Ich wohne seit fast zwei Jahren in Kassel, arbeite freiberuflich und bundesweit (Berlin, München, Hamburg u.s.w., aber besonders viel im Ruhrgebiet, da habe ich bis vor zwei Jahren noch gelebt) manchmal auch im europäischen Ausland – Österreich, Ungarn, Kroatien, Serbien, Bosnien-Herzegowina oder Griechenland.

Das sind viele Aspekte meines Berufs, die aber alle eines gemeinsam haben: Das Spielen hat in allem was ich tue eine zentrale Bedeutung.

Einen Vortrag halten über das Spielen …. ? Ich fühlte mich sofort erinnert an meine Zeit in Indien. Ich war 1994 als junger Mann auf der Suche nach mir selbst einige Monate dort und wollte vor allen Dingen Yoga und Meditation lernen, zudem habe ich die Stille gesucht. Also ging ich in einen Ashram nach Rishikesh, der mir von einem befreundeten Yogalehrer empfohlen worden war. Nein, genau genommen war ich in einem anderen Ashram, der mir vor Ort besser gefiel, aber das ist eine andere Geschichte. Rishikesh liegt im Norden Indiens, in der Nähe der Quelle des Ganges und am Fuße des Himalaya. Das Programm in unserem Ashram war sehr strukturiert: Jeden Morgen standen wir um fünf Uhr auf, und nach einem großen Becher Chay – also Tee mit gekochter Milch – wurde zum ersten Mal meditiert. Im Anschluss eine Stunde Yoga, dann Frühstück, später Mittagessen, nachmittags Yoga, um 18 Uhr Abendessen und später wieder Meditation. Jeden Tag das gleiche Programm, 5 Uhr aufstehen, Yoga, Meditation, Mahlzeiten, alles immer zur gleichen Zeit. Von Montags bis Samstags. Nur Sonntags war frei. Alles war irgendwie sehr ernsthaft, die ganze Atmosphäre gedrückt, aber es ging ja um etwas, wir wollten zur Erleuchtung kommen, da schien Spaß ganz fehl am Platze.

Eines Sonntags kam ein Yoga Professor aus der Großstadt zu uns zu Besuch. Er sollte einen Vortrag über das Lachen halten. Das kam mir seltsam vor, machte mich aber neugierig, also ging ich hin. Nicht alleine, ich hatte im Ashram einige Freunde gefunden, die alle mit wollten.

Der Professor war sehr nett und freundlich. In betont ernsthafter Weise sprach er über die wichtige Bedeutung des Lachens. Er sagte, Lachen befreit den Körper und die Lebens-Energie. Wenn wir richtig und von ganzem Herzen lachen, bekämen wir einen Geschmack von Erleuchtung – die Energie befreit sich, steigt auf und wir spüren einen Zustand von Glück und Freiheit. Der Professor sagte, vor jeder Meditation sollten wir etwa 10 Minuten lachen, um uns auf die Praxis einzustellen. Oder abends bevor wir zu Bett gehen, einfach 10 Minuten lang lachen, und wir hätten einen wunderbaren Schlaf.

Er beschrieb uns das Lachen als ‚Methode‘, die man bewusst einsetzen könne. Tatsächlich mussten wir, also meine Freunde und ich – die ganze Zeit über unentwegt lachen. Es schien uns alles so absurd, dieses ernsthafte Sprechen über das Lachen, Lachen ist für mich etwas anarchistisches, wildes, schwer Kontrollierbares, und gerade das macht doch seine Kraft und seine Schönheit aus. Der Ausbruch aus dem Normalen, die humorvolle Distanz zu dem was wir als „normal“ erleben, die plötzliche und unerwartete Freude, die das mit sich bringt. Lachen ist oft subversiv. Wir versuchten unser Lachen natürlich zu unterdrücken, wollten nicht unhöflich sein, aber immer wenn wir uns auch nur kurz anschauten, ging es wieder los. Heute würde man sagen, wir hatten einen „Lach-Flash“, wir konnten einfach nicht mehr damit aufhören. Der Professor schien sich nicht beirren zu lassen, wirkte aber sehr verunsichert.

Lachen und das Spielen sind sehr miteinander verwandt

Warum erzähle ich das? Weil das Lachen und das Spielen für mich sehr miteinander verwandt sind. Wenn wir wirklich spielen, vergessen wir die Welt, und gehen ganz darin auf. Man sollte das Spiel nicht zu ernst nehmen, der Humor darf nicht fehlen. Ich weiß wovon ich spreche. Wenn ich als Kind bei einem Brettspiel zu häufig verloren habe, war ich den ganzen Abend über beleidigt. Meine Eltern haben mich dann manchmal absichtlich gewinnen lassen, weil sie mich dann besser aushalten konnten. Zum Glück habe ich das damals nicht bemerkt.

Josef Huizinga, einer der wichtigsten Spieltheoretiker des 20. Jahrhunderts, hat die „Selbstvergessenheit“ und das „zweckfreie Handeln“ als die wichtigsten Aspekte des Spielens benannt. Man könnte sagen, das Spielen etwas „nutzloses“ ist, es bringt keinen unmittelbaren Ertrag, und genau da liegt seine besondere Kraft. Weil es so sehr gegen den Zeitgeist ist, wo alles was wir tun einen Zweck haben muss auf dem Weg der Selbstoptimierung. Viele Pädagog*innen setzen Spiele tatsächlich dazu ein, um bestimmte und vorher definierte Ziele zu erreichen – was genau genommen gegen die Natur des Spielens ist. Auch in der Erwachsenenbildung ist das sehr verbreitet. Bekommen die Teilnehmer*innen das mit verlieren sie schnell die Lust.

Natürlich erwünscht oder erhofft man sich bestimmte Wirkungen, die man mit seinen Spielen erreichen kann, auch ich tue das, aber man sollte immer offen dafür sein, dass es ganz anders läuft als man sich das gedacht hat. Manchmal wird man überrascht, wie anders die Spiele laufen – was nicht unbedingt schlimm sein muss, im Gegenteil. Wir kommen später darauf zurück.

Der Flow Zustand

Michail Cikszentmihaly, ein ungarischstämmiger Psycholge, hat viele Bücher über das Erleben von „Flow“ geschrieben – wenn Denken, Fühlen und Handeln eins geworden sind. „Flow“ erleben wir ganz besonders häufig im Spiel, wenn wir völlig darin aufgehen. Für ihn ist das Erleben von „Flow“ ein Indikator für Glück.

Wenn wir selber nicht gerne spielen, wird uns das Anleiten von Spielen große Probleme bereiten. Es wird dann eine sehr ernsthafte Angelegenheit werden. Mitte der Neunziger Jahre habe ich mal eine Fortbildung für Lehrer geleitet. Ich sage bewusst Lehrer und nicht Lehrerinnen, weil wir die Gruppen nach Geschlechtern geteilt hatten, das war Teil unseres Konzepts – das Thema der Fortbildungen war „geschlechtsspezifische Sozialisation“. In diesem Kontext wollte ich einige Spiele vorstellen, die man gut mit Jungen machen kann, wobei sicher auch Mädchen daran Freude haben würden. Die Lehrer fanden das alles sehr interessant und hörten mir aufmerksam zu. Einige hatten schon Zettel und Stift bei der Hand um alles mitschreiben zu können, sie wollten auf keinen Fall etwas verpassen. Als ich sie aber bat ihre Schuhe auszuziehen, weil ich nun gleich mit der praktischen Erprobung einiger Spiele beginnen wollte, waren manche von Ihnen richtig erschrocken. Wie, sie sollten selber spielen? Darauf waren sie nicht eingestellt. Ein etwas älterer Kollege mit einem ordentlichen Bauch fragte mich, ob ich nicht einfach „eine Folie auflegen könne“, um die Spielregeln zu beschreiben. Man müsse ja nicht immer alles selber ausprobieren, er habe schließlich schon 30 Jahre Berufserfahrung und könne sich in vieles hineindenken. Ich lasse das mal so stehen.

Als wir dann aber richtig loslegten, konnten die Kollegen gar nicht mehr aufhören mit dem Spielen, so viel Spaß hatten sie plötzlich, und wirkten plötzlich wie kleine Jungs – ein bisschen unkontrolliert und völlig selbstvergessen. Wirkliches Spiel hat etwas Anarchistisches. Ich kann mich gut daran erinnern, wie an so einem Tag einmal eine Kollegin – aus der Parallelgruppe – an die Tür klopfte. Die Wildheit und die Lautstärke unserer Spiele waren ihr unheimlich, sie wollte einfach mal nach dem Rechten sehen ob alles in Ordnung sei. Die Frauen nebenan hatten ganz anders gearbeitet mit Phantasiereisen und Malen, und fühlten sich durch uns gestört.

Natürlich ist das Spielen nicht nur auf „Spiele“ begrenzt

Natürlich ist das Spielen nicht nur auf „Spiele“ begrenzt, obwohl das in diesem Vortrag der Schwerpunkt sein soll. Der Vollständigkeit halber sollte erwähnt werden, dass wir alle genau genommen zwar nicht die ganze Zeit über, aber häufiger als wir denken, spielen. Besonders deutlich und nicht ohne Augenzwinkern hat das der Psychologe Eric Berne beschrieben – in seinem Klassiker „Spiele der Erwachsenen“. In den 60er Jahren geschrieben und immer noch lesenswert. In diesem Buch, das wirkt wie eine Anleitung für Gesellschaftsspiele mit möglichen Varianten, zu erzielendem Gewinn und Verlust, beschreibt Berne en detail, wie wir uns in der Liebe, im Beruf und im Alltag das Leben schwer machen können. In der Regel wissen wir nicht, dass wir spielen, folgen aber typischen Handlungsmustern, die zum immer gleichen Ergebnis führen. Häufig geht es dabei um Anerkennung, Macht, Verführung, aber auch um Rache oder Selbstbestätigung. Natürlich sind wir uns dessen in der Regel nicht bewusst, wir denken tatsächlich, es ginge darum jemanden kennenzulernen, Probleme zu lösen oder zu unserem Recht zu kommen. Erst wenn wir Dinge immer wieder ähnlich erleben und niemals das bekommen, was wir uns wünschen, wenn wir schon ganz hilflos und frustriert sind weil uns immer wieder das Gleiche passiert – horchen wir tiefer in uns hinein um zu schauen, was da falsch läuft – und wie wir aus dieser Zwickmühle wieder herauskommen können.

Der Kommunikationspsychologe Paul Watzlawick hat mal ein Buch geschrieben mit dem Titel „Anleitung zum Unglücklich sein“ – der Titel spricht Bände. Denjenigen unter euch, die in einer längeren Beziehung oder Arbeitsverhältnis stehen, mag das bekannt vorkommen. Oder die, die sich immer wieder in die falsche Frau oder den falschen Mann verlieben und sich fragen „warum“.

Nicht unerwähnt bleiben sollen auch die Planspiele

Nicht unerwähnt bleiben sollen auch die Planspiele. Vermutlich schon zur Zeit der Römer, vielleicht auch schon davor, haben Feldherren auf der ganzen Welt Schlachten auf einem Brett oder in einem Sandkasten mit Spielfiguren durchgespielt, um alle möglichen Varianten im Vorfeld auszuprobieren und auch die Züge des Gegners vorauszudenken. Es ist kein Zufall, dass man hier sofort an Schach erinnert wird, das im Mittelalter zu den sieben Tugenden der Ritter gehörte. Planspiele kennt man heute auch aus der Organisationsentwicklung großer Unternehmen oder in der Friedenspädagogik, um herauszufinden, wie man komplexe Konflikte mit vielen Beteiligten lösen könnte.

Ich selber habe in den letzten Jahren häufig Planspiele im Rahmen von Ferienspielen in Hamburg durchgeführt, bei denen die Kinder eine ganze Stadt gebaut und zum Leben erweckt haben – inklusive Handwerksbetrieben, selbständigen Friseuren, einer Bank, einem Arbeitsamt, gewählten Bürgermeister*innen und Stadtrat, zudem gab es eine eigene Währung bzw. Geld. Mal waren das besondere Muscheln, mal speziell angemalte Holztaler. Die Kinder konnten hier spielerisch erleben und ausprobieren, wie alle Teile des Gemeinwesens miteinander verzahnt sind und mussten sich selber etwas ausdenken, wenn Probleme auftraten oder etwas nicht rund lief.

Spiel oder Ernst? Wettkampfspiele …

Viele der Kinder nahmen dieses Spiel richtig ernst, ohne zu vergessen dass es Spiel ist. Kinder können oft viel besser in dieser doppelten Wirklichkeit leben als Erwachsene. Für die meisten Erwachsenen sind „Spiel“ und „Ernst“ Gegensätze – es gibt nur entweder/oder, nicht sowohl als auch. Heikel wird es allerdings bei Wettkampspielen, bei denen es um gewinnen oder verlieren geht. Wozu es führen kann, wenn man diese Art von Spiel zu ernst nimmt, kann man zum Beispiel vor oder nach Fußballspielen erleben, wenn sich Fans beider Seiten verprügeln und nicht selten schwer verletzen. Auf der anderen Seite macht es überhaupt keinen Spaß mit Menschen zu spielen, die das Spiel nicht ernst nehmen, zum Beispiel ständig die Regeln verletzen oder nicht gewinnen wollen. Gegen so jemanden zu gewinnen, gibt einem ein laues Gefühl, vielleicht habt ihr das schon mal erlebt.

Gewinnen oder verlieren?

Ich denke es kommt auf die richtige Balance an. Wettkampfspiele machen Spaß, und Scheitern gehört dazu. Wenn ich es schaffe, wirklich alles zu geben um zu gewinnen – aber trotzdem verliere und meine gute Laune behalte, bin ich auf einem guten Weg. Wenn es beim Spielen irgendetwas für das Leben zu lernen gibt, dann ganz sicher, gut „verlieren zu können“. Immer wieder taucht dieses Thema in Biografien von erfolgreichen Persönlichkeiten auf, seien es Sportler*innen, Künstler*innen oder Unternehmer*innen: Viele von ihnen sind auf dem Weg zum Erfolg immer wieder gescheitert; manche von Ihnen haben gleich mehrfach alles verloren, aber niemals aufgegeben und einfach immer weitergemacht. Weil sie an sich geglaubt haben. Ich möchte ergänzen: Weil sie die „Spielnatur“ des Lebens erkannt haben, bei dem Gewinnen und verlieren einfach dazu gehört, das ist keine große Sache.

Das Leben als Spiel zu begreifen, zumindest aber „spielerischer“ mit den Dingen umzugehen, die uns tagtäglich widerfahren, macht das Leben um vieles leichter. Vor allen Dingen, wenn wir den Humor nicht vergessen und auch über unsere Missgeschicke mit anderen gemeinsam lachen können. Das ist allemal besser, als sich fortlaufend über über Gott und die Welt aufzuregen. Menschen die auch verlieren und über sich lachen können, sind angenehmere Zeitgenossen als die immerzu unter der Welt leidenden „Opfer“ oder die verbissenen und aufgeblasenen „Gewinnertypen“.

Spiel und Humor machen das Leben lebenswert.

Kooperation statt Konkurrenz – Spiele ohne Sieger?!

In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war die Spielpädagogik sehr von der antiautoritären Erziehung geprägt. Im „Konkurrenzstreben“ sah man vor allen Dingen das „Gegeneinander“ statt des gewünschten „Miteinanders“ und war damit unzufrieden, dass Gewinner naturgemäß auch immer Verlierer mit sich bringen. Das Streben, den oder die anderen besiegen zu wollen, sah man als Ausdruck des Kapitalismus, den man bekämpfen und etwas entgegensetzen wollte. Friedenserziehung sollte anders aussehen: „Kooperation statt Konkurrenz“ war das Stichwort, das diesen Gedanken gut zusammenfasst. Titel wie „New Games“ oder „Spiele ohne Sieger“ hatten Konjunktur. Auch in meiner eigenen Spiel – und Theaterpädagogik-Ausbildung Ende der 80er Jahre wurde sehr viel Wert darauf gelegt. Im Laufe der Jahre und der Arbeit mit zahlreichen Gruppen merkte ich allerdings, dass dieses Konzept nicht wirklich funktioniert. Etwas fehlt. Wettstreit und Kräfte messen scheint etwas urmenschliches zu sein, dass uns allen eingeboren ist. Das kann man schon bei den Tieren beobachten: Krähen veranstalten zum Beispiel Wettflüge, Schimpansen, Wölfe und Hirsche leben in Rudeln bei denen der Stärkste durch Wettkämpfe ermittelt werden muss.

Meine Erfahrung zeigt: Gerade Kinder und Jugendliche fordern den Wettstreit immer wieder ein, Jungs noch mehr als Mädchen. Seine Grenzen zu spüren und über sich hinauszuwachsen ist ein wichtiger Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung. „Spiele ohne Sieger“ werden ihnen schnell langweilig, weil sie nicht aus ihrer „Komfort-Zone“ herausgelockt werden – und es ist dann manchmal schwierig, die Spannung zu halten.

Wie so häufig liegt die Lösung nicht in den Extremen, sondern in der Mitte. Ich arbeite heute häufiger mit Wettkämpfen, weil das eine gute Spannung erzeugt – aber nie verbissen und immer mit Augenzwinkern. Ich zeige dabei zugleich, das nicht nur gewinnen Spaß machen kann, sondern auch verlieren – wenn man es schafft über seine eigenen Fehler zu lachen. Ich versuche dabei „Vorbild“ zu sein – und nehme mich selber nicht zu „ernst“.

Es ist alles nur ein Spiel! Klingt paradox, funktioniert aber gut.

Spiele und was sie bewirken können

Kommen wir zur Wirkung von Spielen. Wenn man Spielebücher anschaut, findet man dort meistens Auflistungen, wofür die Spiele alles gut sein können:

Kennen Lernen – Namen lernen – Umgebung kennenlernen – Aktivierung bei Lustlosigkeit – Aufwärmen – Thema kennenlernen und spielerisch erforschen – Spielerischer Meinungsaustausch – Aufteilung in Untergruppen – Interesse aneinander entwickeln – Körperkontakt zulassen – Kooperation üben – Vertrauen entwickeln – Wettkampf, Durchsetzung – motorische Sensibilisierung – Entspannung, zur Ruhe kommen – Harmonisierung, Abschluss – Auswertung

Wenn man sich für ein Spiel für eine Gruppe entscheidet, ist es wichtig, sich darüber Gedanken zu machen, was dieses Spiel bewirken kann bzw. was es aus unserer Sicht als Spielleiter*in bewirken soll. Manche Dinge liegen auf der Hand: Eine Gruppe, die sehr unruhig und unausgeglichen ist, weil sie den ganzen Vormittag in der Schule gesessen hat, wird ein Spiel mit Bewegung gut tun, bei der sich die einzelnen richtig verausgaben können. Eine andere Gruppe, die schon viel herumgetobt hat, wird vielleicht eine Phantasiereise gut tun, bei der sie richtig entspannen und wieder runter kommen kann. Eine dritte Gruppe wirkt vielleicht ein wenig gelangweilt, sodass ich ihnen eine Herausforderung stelle, die sie bewältigen müssen. Allerdings hat man verloren, wenn man das Spiel wie ein „Rezept“ verabreicht, weil man selber genervt ist von der Gruppe, und dieser das Spiel womöglich gar keinen Spaß macht.

Ganz sicher kann man sich allerdings niemals sein, denn was der einen Gruppe gefällt kann für eine andere Gruppe todlangweilig sein.

Ich würde immer empfehlen, vor allen Dingen die Spiele zu anzuleiten, die ich selber schon erlebt habe und die mir Spaß gemacht haben – dann kann sich meine Begeisterung auf die Gruppe übertragen. Was ich selber nicht mag, nicht wirklich verstehe, mir fremd ist würde ich nicht anleiten. Daher sind Spielebücher für mich auch eine zweischneidige Sache: Man kann sich inspirieren lassen, aber Spiele die man nie selber erlebt hat, anzuleiten, ist nicht so einfach. Häufig muss man auch die Spielregeln variieren, oder, wenn man ein wenig Übung darin hat, neue Varianten der Spiele erfinden, damit sie optimal zu der Gruppe und der Situation passen. Es ist sicher vorteilhaft wenn man gut zuhören kann, wenn man spüren kann, wie die Atmosphäre in der Gruppe ist, und was ihnen gerade gut tun würde. Dafür ist es wichtig dass man sich auch mal zurücknimmt und „lauscht“, spürt, seiner Intuition nachgeht, und nicht meint, ständig Vollgas geben zu müssen.

Manchmal erzielt man Effekte, mit denen man nie im Leben gerechnet hätte. In der Theaterpädagogik gibt es eine beliebte Übung mit dem Titel „Automatisches Gehen“, „Raumlauf“ oder einfach „Gehen im Raum“. Ich mache das fast in jeder Gruppe, es ist die einfachste Möglichkeit, die Spieler*innen in Bewegung zu setzen, und von da aus kann man viel entwickeln, zum Beispiel die Variation des Tempos, verschiedene Begrüßungen, Namensspiele, Stop and Go und so weiter. Einmal machte ich eine Probestunde im Studium für Senioren. Der Raum war allerdings sehr für die ganzen Leute, es waren an die Achtzig Personen, und wir konnten uns nur mit Mühe bewegen. Ständig hatte man jemanden vor der Nase, und das Ganze war ein bisschen nervig. Alles wirkte ein bisschen mühsam, bemüht, bei der gleichen Übung bei der sonst alle locker wurden und verspielt.

Nach etwa 15 Minuten begann eine ältere Frau zu weinen, und ich musste das Ganze beenden. Was war passiert? Sie war bei dem engen Gehen im Raum an eine Szene aus ihrer Jugend erinnert worden, als sie im Krieg in einem Konzentrationslager eingesperrt mit den anderen Gefangenen auf den Hof ging.

Mit dieser Wirkung hatte ich nicht gerechnet, konnte ich auch nicht rechnen, ich war sehr erschrocken. Das war sicher ein besonders extremes Beispiel und eine Ausnahme. Trotzdem ist mir immer wieder passiert, dass Übungen und Spiele bei Teilnehmer*innen meiner Kurse, Gruppen oder Workshops völlig anders liefen als ich das erwartet hatte. Man kann nicht auf alles vorbereitet sein. Aber es ist gut zu wissen, was man tun kann, wenn unvorhergesehene Dinge passieren.

Einige Dinge sind mir bei der Arbeit mit Gruppen besonders wichtig. „Akzeptanz“ steht dabei ganz oben: Wenn ich ein Spiel anleite und es einem Teilnehmer nicht gefällt, er oder sie nicht mitspielen möchte, muss ich das nicht persönlich nehmen und ihn nicht zwingen mitzumachen – weil ihm das doch „bestimmt gut tun würde“. Wenn es ihm oder ihr keine Freude bereitet, muss sie nicht mitmachen, Punkt. Wenn es nur eine oder vielleicht auch zwei Personen sind, und der Rest der Gruppe genießt die Spielsituation, bitte ich die beiden einfach, sich vorübergehend an den Rand zu setzen, und später wieder in das Spiel einzusteigen, wenn es sie das möchten. Wenn es größerer Teil der Gruppe ist, der nicht mitmachen möchte, muss ich ein anderes Spiel machen oder die Regeln ändern. Dann habe ich die Gruppe im Vorfeld falsch eingeschätzt – was passieren kann – und muss meinen Plan ändern. Absolute Freiwilligkeit ist für mich besonders wichtig. Das gemeinsame Spielen soll Freude bereiten. Zwang ist fehl am Platze. Natürlich würde ich zuerst versuchen, ihn oder sie aufs Spielfeld zu locken – vielleicht ist sie ein bisschen schüchtern und braucht einen kleinen Anstoß. Wenn sie aber partout nicht mitspielen möchte, muss sie das auch nicht, dann darf sie auch mal von außen zuschauen.

Wenn ihr gar nichts gefällt von dem, was ich mache, nehme ich sie vor oder nach der Stunde zur Seite und suche das Gespräch. Dabei dringe ich nicht in sie ein, sondern höre vor allen Dingen gut zu. Kann sein, dass sie mit anderen Teilnehmer*inne nicht zurechtkommt, sich ausgegrenzt fühlt, sich zu unsportlich, zu dick, zu phantasielos und so weiter empfindet. Oder ihre Großmutter oder ihr Kaninchen ist gestorben und sie ist einfach traurig. All das kann ich möglicherweise nicht aus ihrem Verhalten ablesen und nur in einem Einzelgespräch herausfinden. Das Zuhören alleine kann schon sehr hilfreich sein. Vielleicht kann ich ihr auch helfen, eine Brücke zu bauen, wer weiß. Das wiederholte bestehen darauf, dass sie „jetzt endlich“ mitmachen solle, ist jedenfalls kontraproduktiv – in Schulen erlebe ich so etwas öfter. In dem Gespräch kann sich auch herausstellen, dass die Gruppe oder die Arbeit nicht das Richtige für sie ist, dann sollte sie die Gruppe verlassen. Spielen ist etwas Wunderbares. Ich selber bin sehrt glücklich, dass sich mein ganzes berufliches Leben um das Spielen dreht – schöner könnte es nicht sein.

Ich möchte meinen kleinen Vortrag mit einem Zitat des berühmten Theaterregisseurs Max Reinhard, beschließen, der über das Schau-Spielen gesprochen hat. Ich finde, das passt sehr gut zu unserem Thema:

In den Kindern spiegelt sich das Wesen des Schau-Spielers am reinsten wieder. Sie wollen die Welt noch einmal selbst entdecken, selbst erschaffen. Sie sträuben sich instinktiv dagegen, die Welt durch Belehrung in sich aufzunehmen. Sie wollen sich nicht mit den Erfahrungen anderer vollstopfen. Sie verwandeln sich blitzschnell in alles, was sie sehen, und verwandeln alles in das, was sie wünschen. Ihre Einbildungskraft ist zwingend. Das Sofa hier? Eisenbahn: schon knattert, zischt und pfeift die Lokomotive, schon sieht jemand beglückt durch das Coupéfenster die zauberhaftesten Landschaften vorbeifliegen, schon kontrolliert ein strenger Beamter die Fahrkarten und schon ist man am Ziel; ein Gepäckträger schleppt keuchend ein Kissen ins Hotel, und da saust bereits der nächste Sessel als Automobil geräuschlos dahin, und die Fußbank schwebt als Flugzeug durch alle sieben Himmel.

Ich glaube an die Unsterblichkeit des Theaters. Es ist der seligste Schlupfwinkel für diejenigen, die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben, um bis an ihr Lebensende weiter zu spielen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!